DAS DEUTSCHE DIVERSITÄTS­DILEMMA

Die Versäumnisse deutscher Unternehmen beim Thema Diversität sind pandemiebedingt deutlich stärker in den Fokus der breiten Öffentlichkeit gerückt. Die offensichtliche Chancenungerechtigkeit für Menschen mit Behinderungen, anderen Geschlechts, Alters, sexueller Orientierung und Identität sowie kultureller und sozialer Herkunft erhöht daher den Veränderungsdruck auf Unternehmen noch einmal erheblich.

Chancengerechtigkeit, Diversität und Inklusion werden immer intensiver eingefordert, was Unternehmen zu einem ausgeprägten Diversitäts-Aktionismus verleitet. So werden Frauenquoten veröffentlicht, Regenbogenflaggen geschwenkt und Diversity-Weeks öffentlich wahrnehmbar veranstaltet. So erfreulich dieses intensivierte Engagement der deutschen Wirtschaft für Diversität auch ist, so sehr trifft der Titel des German Diversity Monitor 2020 nach wie vor zu: „Diversität ist in deutschen Unternehmen mehr Lippenbekenntnis als Realität“.

Die Ergebnisse des German Diversity Monitor 2021 zeigen den Stillstand der Diversität und machen die Risiken deutlich, die  Unternehmen eingehen, wenn sie Diversität als wirtschaftlichen Erfolgsfaktor ignorieren und damit Gefahr laufen, in die Spirale der Ignoranz  abzurutschen. Darüber hinaus erkennen wir ein deutliches Relevanzgefälle zwischen den verschiedenen Diversitätsdimensionen, welches zur Diskriminierung einzelner Dimensionen führt.

Mit dem German Diversity Monitor 2021 erfolgt nach 2020 zum zweiten Mal eine Bestandsaufnahme der Diversität in den Vorständen bzw. in den Geschäftsführungen führender deutscher Unternehmen sowie des inklusiven Arbeitsumfelds in deutschen Unternehmen. Dadurch sollen Fortschritte und Veränderungen identifiziert und die Wirkung von BeyondGenderAgenda, dem bedeutendsten Netzwerk für Diversity, Equity & Inclusion (DE&I) in der deutschen Wirtschaft, messbar gemacht werden.

Wir danken allen teilnehmenden Unternehmen für ihre Bereitschaft, durch die Beantwortung unserer Umfrage das wichtige Thema Diversität in Deutschland weiter voranzutreiben.

RAUS AUS DEM DIVERSITÄTS-DILEMMA

Die Ergebnisse des diesjährigen German Diversity Monitor schrecken auf: zwei kleine Schritte vor und ein großer zurück.

Der Diversitäts-Stillstand setzt deutsche Unternehmen unter Zugzwang. Um das Potential voll ausschöpfen zu können und nicht weiter an Wirtschaftskraft zu verlieren, muss Diversität als erfolgskritischer Wirtschaftsfaktor anerkannt, entsprechend im Unternehmen verantwortet, mit Ressourcen ausgestattet und als strategisches Unternehmensziel festgelegt werden.

Drei Maßnahmen sind ein wesentlicher Startpunkt, um das Diversitäts-Dilemma aufzulösen:

CEO trägt Verantwortung für Diversität Bereitstellung erfolgskritischer Ressourcen Festlegung einer ambitionierten
Diversitätsquote.
Trotz des aktuellen Diversitäts-Dilemmas sollten Unternehmen die Chancen von Diversität in den Fokus ihrer Überlegungen stellen und eine umfassende Diversitäts-Transformation einleiten. Die Vorteile werden schnell überwiegen und bereits in frühen Phasen der Transformation von den Stakeholder:innen geschätzt werden.

MÄNNLICH TROTZT GESETZLICHER MINDEST­ANFORDERUNG

Die am häufigsten mit Diversität assoziierte Dimension ist GENDER. Die hohe Aufmerksamkeit und Relevanz, die diese Dimension im Vergleich zu den anderen Dimensionen erfährt, lässt einen entsprechend hohen Frauenanteil in den Führungsetagen der Unternehmen erwarten.

Vorstände im DAX bleiben jedoch männlich und das trotz gesetzlicher Mindestanforderung – durch die Erweiterung auf DAX 40 wird die männliche Dominanz sogar noch verstärkt.

TinaMüller

Tina
Müller

CEO, Douglas Group

Die Geschichte von Douglas ist geprägt von starken Frauen. Die Förderung von Frauen ist bei uns gelebte Praxis und zentraler Eckpfeiler unseres Erfolgs. Auf allen Führungsebenen haben wir einen Frauenanteil von mind. 50 Prozent, Tendenz steigend. In der ersten Führungsebene liegt der Frauenanteil bei 2/3 – einmalig bei Unternehmen unserer Größenordnung. Damit nehmen wir eine Vorreiterrolle in Deutschland ein. Mit einer Vielzahl von Formaten und Kampagnen setzen wir ein Zeichen gegen Diskriminierung und für Inklusion: So schaffen wir zum Weltfrauentag mit unserer Initiative #FORWARDfemaleLEADERSHIP Raum für Austausch, Netzwerk und Dialog. Als Mitglied der „Initiative Women into Leadership e.V.“ fördern wir Frauen bei ihrer beruflichen Entwicklung. Gleichzeitig unterstützen wir gezielt weibliche Gründer-Teams. Geschlechtergerechtigkeit ist für uns Selbstverständlichkeit. Wir müssen unsere Vorbildfunktion leben. Nur so leisten wir einen echten Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt.

BLASSE FAKTEN HINTER BUNTER REGENBOGEN­FLAGGE

Die auffällige Präsenz des farbenfrohen Regenbogens in Kommunikation und Marketing von Unternehmen suggeriert eine trügerische Gleichberechtigung von Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung sowie Geschlechtsidentität. Die Realität im Unternehmensalltag sieht jedoch anders aus.

Nur selten werden spezifische Maßnahmen für die Zielgruppe angeboten und nachhaltig umgesetzt. Die Kluft zwischen kommunizierter Ambition und tatsächlicher Verbesserung der Situation muss dringend überbrückt werden.

Dr. RichardLutz

Dr. Richard
Lutz

Vorstandsvorsitzender, Deutsche Bahn AG

Die Deutsche Bahn setzt bunte, laute und sichtbare Zeichen für Vielfalt und hat ihr Engagement für LGBTIQ* mit der Diversity-Initiative „Einziganders“ fest in der Konzernstrategie verankert. Die Diversität unserer Mitarbeitenden ist für uns eine wertvolle Bereicherung und ein Gewinn für das Team DB.

Aktive Unterstützung ist für uns nicht an Aktionsmonate gebunden. Wir arbeiten das ganze Jahr sehr eng mit unserem LGBTIQ*-Mitarbeitendennetzwerk „railbow“ zusammen und helfen LGBTIQ*-Kolleg:innen, zu ihrer Identität zu stehen. Wir ermöglichen z. B. die Teilnahme an Coming Out-Seminaren, bieten eine Peer-to-Peer-Beratung rund um das Thema „trans* im Job“ an und stehen über  unterschiedlichste Formate in engem Austausch mit trans*-Mitarbeitenden. Auf Job undKarrieremessen stellen wir uns der LGBTIQ*-Community als offene Arbeitgeberin vor. Auch für die AIDS-Hilfe engagieren wir uns kontinuierlich.

Pinkwashing ist für uns ein rotes Tuch. Die Fahne von Toleranz, Anerkennung und Wertschätzung weht bei uns an jedem Tag.“

TALFAHRT IN DIE BEDEUTUNGS­LOSIGKEIT

Neben Gender ist die Dimension DISABILITY die einzige Diversitätsdimension, die gesetzlichen Regulierungen unterliegt. Die vorgegebene Quote von Mitarbeitenden mit Behinderungen lässt sich jedoch durch Zahlung einer Ausgleichsabgabe für Schwerbehinderte einfach und günstig umgehen. Menschen mit Behinderungen werden nicht nur benachteiligt, wenn sie vom ersten Arbeitsmarkt gänzlich ausgeschlossen
werden.

Auch Unternehmen verpassen eine große Chance. Die Talfahrt in die Bedeutungslosigkeit von Menschen mit Behinderungen als Mitarbeitende muss gestoppt werden. Sie dürfen nicht länger als Belastung gesehen oder ihre Einstellung als wohltätig empfunden werden.

RaulKrauthausen

Raul
Krauthausen

Aktivist und Vorstand, SOZIALHELDEN e.V

Es gibt keine Arbeit, die nicht durch einen Menschen mit Behinderung gemacht werden kann. Früher war es undenkbar, dass eine Frau Ärztin oder Konzernchefin werden könnte, heute ist das für die meisten Menschen ganz normal. Wie lange wird es noch dauern, bis es für uns alle alltäglich ist, dass jemand mit Down Syndrom an der Universität unterrichtet oder ein gehörloser Journalist in der Bundespressekonferenz
Fragen stellt? Wenn Arbeitgeber*innen aufhören, sich mit der Zahlung der Ausgleichsabgabe hervorragende Kolleg*innen fern zu halten, dann können wir endlich anfangen in einer dem 21. Jahrhundert entsprechenden Arbeitswelt zu arbeiten. Davon können wir alle nur profitieren, menschlich und wirtschaftlich.“

STIMMEN AUS DEM VORSTAND

Welchen Stellenwert hat der wirtschaftliche Erfolgsfaktor Diversität für Ihr Unternehmen?

Renate Wagner

Renate
Wagner

Vorständin, Allianz SE

Wir bei der Allianz sind davon überzeugt, dass eine vielfältige Belegschaft der Schlüssel zu leistungsstarken Teams, Innovation und Kreativität
ist, da wir unsere Kund:innen nur dann am besten verstehen und bedienen können, wenn wir ihre Vielfalt in unserer Belegschaft repräsentieren. Unser Erfolgsfaktor zur Förderung von Diversität sind klare Ziele, die durch Transparenz, Leidenschaft und ein starkes Engagement des  Managements unterstützt werden!“
SarenaLin

Sarena
Lin

Chief Transformation and Talent Officer, Bayer AG

Vielfalt und Inklusion sind für Bayer sehr wichtig, weil sie entscheidende Bausteine für unseren langfristigen Erfolg sind. Eine inklusive Organisation, in der Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen begeistert sind, ihre Beiträge zu leisten, schafft das Umfeld, das für künftiges Wachstum erforderlich ist. Kreatives Brainstorming fördert Innovationen, offene und transparente Kommunikation verbessert die Effektivität und Produktivität, und eine fürsorgliche und zugleich anregende Arbeitsumgebung zieht die besten Talente an und bindet sie ein.“linsere
Christian Sewing

Christian
Sewing

Vorstandsvorsitzender, Deutsche Bank AG

Vielfalt und Teilhabe sind wichtig für die Deutsche Bank, denn sie helfen uns dabei,  innovativ zu sein – und das ist die Basis für nachhaltiges Wachstum und Wirtschaften. Innovation entsteht nicht dadurch, dass alle dasselbe denken, dass alle denselben Hintergrund haben. Sie entsteht aus dem Wettstreit von Ideen und aus verschiedenen Erfahrungen, Erkenntnissen und Sichtweisen. Und aus dem Wunsch und der Freiheit, diese Diversität einzubringen.“
Dr. TheodorWeimer

Dr. Theodor
Weimer

Vorsitzender des Vorstands, Deutsche Börse AG

Wir sind 9.000 Menschen aus über 100 Ländern an 60 Standorten weltweit. Menschen in ihrer Vielfalt anzuerkennen ist für uns nicht nur  ethisch geboten; es ist auch ganz entscheidend für unsere wirtschaftliche Leistungskraft. Dabei bedeutet Diversität mehr als nationale Herkunft und  kulturelle Prägung; zu ihr gehören neben sozialem Hintergrund und Bildungsgeschichte auch die sexuelle Orientierung, der individuelle Charakter und vieles mehr. Und nur wer dies in der Belegschaft schätzt und fördert, wird auch der Vielfalt der Kundschaft gerecht – und bleibt als Unternehmen innovativ.“

MONITOR 2020

Mit dem German Diversity Monitor 2020 erfolgte im Gründungsjahr von BeyondGenderAgenda eine erste Bestandsaufnahme der Diversität in den Vorständen bzw. in den Geschäfts­führungen führender deutscher Unternehmen.

Im Rahmen des German Diversity Monitor 2020 wurden zwei Studien durchgeführt, um einen umfas­senden Überblick zum Status quo der Diversität in der deutschen Unternehmenslandschaft zu erhalten. Durch die Kombination von Primär- und Sekundärdaten zeichnet die Studie ein reprä­sentatives Bild der objektiven Diversität in den DAX-Indizes-gelisteten Unternehmen sowie der subjektiven Perspektive von Topmanager:innen und Mitarbeitenden deutscher Unternehmen.